Vivien Meyer – Die Stimme

Es ist der 18. Januar 2001. Für Tom ein ganz normaler Tag, der wie jeder Andere  beginnt. Nicht wie andere Kinder wird er liebevoll von seinen Eltern geweckt, sondern durch die Schreie seiner Eltern, die so laut sind, dass man sie vermutlich noch drei Häuser weiter hören kann. Während die Schreie seiner Mutter pure Angst und Schmerz verkörpern, sind die Schreie seines Vaters von innerer Wut und Aggressionen geprägt. Meistens fangen die Konflikte damit an, dass Toms Vater seine Mutter für irgendwelche Kleinigkeiten verantwortlich macht. Nicht selten enden diese Konflikte mit körperlicher Gewalt. Er hat einmal gehört, wie sein Vater ausgerastet ist, weil seine Mutter den Müll nicht rausgebracht hat. Daraufhin hat er sie so doll auf den Boden geschlagen, bis sie dort lag und sich nicht mehr bewegen konnte, um dann schließlich stundenlang auf sie einzutreten. In Situationen wie diesen schließt sich Tom in seinem Zimmer ein und hält sich die Ohren zu in der Hoffnung, die Schreie seiner Mutter nicht ertragen zu müssen. Trotz alledem, dass  Tom sich irgendwann an das alles gewöhnt hat, wünscht er sich nichts mehr, als mit seiner Mutter abzuhauen, um von seinem Vater wegzukommen. Auch an diesem Morgen war dies sein einziger Wunsch. Was Tom zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass in genau zwei Wochen alles vorbei sein würde. Allerdings nicht ganz, wie er sich das vorstellte.

Es ist der 01. Februar 2013. Tom sitzt in seiner Einzimmerwohnung, welche sich in einem riesigen Wohnblock in Berlin befindet. Er schaut aus dem 23. Stock aus seinem Küchenfenster in die Ferne und lässt seine Gedanken schweifen, so wie er es jeden Tag macht. Nur, dass dieser Tag kein gewöhnlicher Tag ist, denn genau vor 13 Jahren verstarb seine Mutter, nachdem sein Vater sie in einem ihrer unzähligen Konflikte gewürgt hatte, bis sie schließlich keine Luft mehr bekam und starb. Tom war damals nicht zu Hause, als es passierte. Er war in der Schule und als er nach Hause kam, war das Haus von Polizisten umzingelt. Für Tom war dies einer der schlimmsten Tage in seinem Leben. Sein  Vater nahm ihm die Person, die er am meisten liebte. Seine Mutter war eine  unfassbar liebe Frau, die immer versuchte, in allem und jedem das Positive zu  sehen. Immer wieder schaffte sie es, trotz all den Umständen, Tom ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Nachdem er an diesem Tag erfahren hatte, dass er seine Mutter nie wieder sehen würde, brach seine Welt zusammen. Nun war er alleine. Sein Vater wurde aufgrund von Totschlag zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er hatte keine Verwandten, keine Freunde oder sonst irgendwelche Bezugspersonen. Aus
diesem Grund kam er in diverse Pflegefamilien, bis er endlich alt genug war, um seine Sachen zu packen und auszuziehen. Und jetzt sitzt er hier in Berlin, in seiner Wohnung, alleine. Aber einsam ist Tom trotzdem nicht, denn seine Mutter ist immer da. Er hört ihre Stimme, egal wann und wo, sie spricht mit ihm. Es sind verschiedene Dinge, die sie ihm sagt, aber einen Satz wiederholt sie jeden Tag: „Erst wenn er nicht mehr da ist, dann bist du frei.“ Tom weiß, dass dieser Satz auf seinen Vater bezogen ist, der sich vor knapp drei Jahren im Gefängnis das Leben nahm. Physisch war er nicht mehr anwesend, aber die Narben, die er hinterließ, blieben. In seinem Inneren war sein Vater noch lange nicht tot und als er vor kurzem einkaufen war und einem Mann begegnete, der seinem Vater unfassbar ähnlich sah, beschloss er auf die Stimme seiner Mutter zu hören.

Tom stand auf und entfernte sich von seinem Fenster. Nun setzte er sich an seinen Esstisch und klappte seinen Laptop auf, um die Dating-Plattform aufzurufen, bei der er sich vor Kurzem ein Profil erstellte. Nicht etwa, weil Tom Interesse daran hatte Frauen kennenzulernen. Tom war auf der Suche nach Männern. Genauer gesagt nach Männern, die seinem toten Vater ähnlich sehen. Aus diesem Grund erstellte er ein Profil, bei dem er sich als eine 33-Jährige Frau ausgab. Schnell wurde er fündig. Er hatte ein Match mit einem 37-Jährigen Mann namens Oliver. Oliver lebte ebenfalls in Berlin, weshalb er sich perfekt als Opfer eignete. Die Ähnlichkeit zu seinem Vater war verblüffend. Er hatte kurze braune Haare, ein markantes Gesicht mit einer auffälligen großen Nase. Wie sein Vater, war er eher schmal gebaut. Das Einzige, worin sich die beiden unterschieden, war die Körpergröße, denn Toms Vater war ein relativ großer Mann, während Oliver mit einer Körpergröße von 1,73 m verhältnismäßig klein war. Allerdings störte Tom dies nicht weiter, weshalb er Oliver trotzdem eine kurze Nachricht schrieb. Schnell entwickelte sich ein Gespräch und Tom war froh, dass Oliver so gesprächig war, denn dadurch hatte er es einfacher, viele Informationen über ihn zu erhalten. So erfuhr er zum Beispiel, dass Oliver keine Kinder hat und er  zu seinen Eltern kaum noch Kontakt hatte. Diese Faktoren waren sehr wichtig, denn so würde es lange dauern, bis jemand Oliver bei der Polizei als vermisst melden würde. Toms Ziel war es, ein Treffen mit Oliver auszumachen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Allerdings wollte er nichts überstürzen und so entschloss er sich damit noch ein paar Tage zu warten. Tom hatte einen genauen Plan von seinem Vorhaben. Er hatte alles bis auf das kleinste Detail geplant und war sich seiner Sache bewusst. Auch wenn das Treffen mit Oliver noch nicht vereinbart war, wusste er, dass es funktionieren würde.

Drei Tage sind nun vergangen und schließlich vereinbarten die beiden ein gemeinsames Treffen. Glücklicherweise ließ Oliver sich dazu überreden, zu Tom nach Hause zu fahren, um ihn dort abzuholen, damit sie anschließend ins Kino gehen könnten. Natürlich werde es dazu nie kommen. Auch seine richtige Adresse gab Tom logischerweise nicht an. Er hatte zuvor schon die passende Adresse herausgesucht, wo er Oliver hinlocken würde. In genau sieben Tagen wird es so weit sein. In genau sieben Tagen wird Tom sich das nehmen, was ihm seit langer Zeit zusteht. Sein Vater nahm ihm nicht nur seine Mutter. Er nahm ihm seine Kindheit. Tom konnte nie frei sein, wie alle anderen Kinder in der Schule. Sein Vater sorgte dafür, dass er sein Zimmer nicht verlassen konnte, ohne panische Angst zu bekommen. Er konnte nicht mit anderen Kindern spielen, wann er wollte und erst recht konnte er keine Freunde mit nach Hause bringen. Aber irgendwann hatte Tom sowieso keine Freunde mehr, weil er sein Zimmer nicht mehr verließ. Viel hatte sich daran nicht geändert, denn seine Wohnung verlässt er bis heute kaum. Aber das würde sich ändern, nämlich in genau sieben Tagen, wenn Tom
sich seine Freiheit zurückholen würde.

Es ist der 11. Februar 2013. Sieben Tage, nachdem Tom das Treffen mit Oliver vereinbart hatte, sind nun vergangen. Es ist jetzt kurz nach vier und Tom hat noch genau drei Stunden, bis Oliver ihn von „zu Hause“ abholen wird. Zum Glück war es Winter, weshalb es gegen fünf Uhr schon stockdunkel war. Die Adresse, die er Oliver gab, war ein riesiger Wohnblock, welcher ziemlich abgelegen von der Stadt war. Er würde dorthin mit dem Auto  ungefähr 30 Minuten brauchen. Er entschloss sich dazu, eine Stunde vor dem Zeitpunkt des Treffens loszufahren, damit er genug Zeit haben würde, sein Vorhaben, wie geplant, durchzuführen. Demnach hatte er jetzt noch genau zwei Stunden, bis er losfahren müsse. In dieser Zeit belud er sein Auto mit diversen Dingen. Darunter befanden sich verschieden lange Seile, ein scharfes Messer, unterschiedliche Skalpelle und viele weitere Dinge, die Tom für sein Vorhaben benötigen wird. Jetzt war es noch genau eine Stunde bis zu dem Treffen. Tom
setzte sich in sein Auto und fuhr zu der Adresse. Während der Fahrt war er ganz aufgeregt. Wie wird er sich danach fühlen? Wie wird sein Leben nach dieser Tat aussehen? Er hörte seine Mutter, wie sie ihm sagte: „Erst wenn er nicht mehr da ist, dann bist du frei.“

Tom kam an der Adresse an. Er stellte seinen Pkw auf einen dunklen, abgelegenen Parkplatz. Nun suchte er sich ein Versteck in der Nähe des Eingangs des Wohnblocks. Wenn Oliver an der Adresse ankommen würde, würde er zu dem Eingang gehen und nach der Klingel mit dem Nachnamen suchen, den Tom ihm sagte. Natürlich existierte dieser Name nicht und so würde Oliver verwundert die einzelnen Namen auf den Klingeln durchgehen. Während dieser Zeit wird Tom sich von hinten anschleichen und ihn mithilfe von Chloroform in den bewusstlosen Zustand bringen. Sein Plan ging auf. Olivers kurzer panischer Schrei hielt nicht lange an, denn nach ein paar Sekunden hielt Tom den bewusstlosen Körper in seinen  Armen. Nun musste er sich beeilen, um von niemandem gesehen zu werden. So trug er den Körper zu seinem Auto und hieb ihn in den Kofferraum. Zusätzlich fesselte Tom ihn mit einem Seil an den Händen und den Beinen. Er stieg in das Auto und fuhr los. Die abgelegene alte Lagerhalle war zum Glück nicht weit von dem Wohnblock entfernt. Er brauchte ungefähr 20 Minuten, bis er dort ankam. Aus dem Kofferraum hörte er langsam, wie Oliver wieder zu Bewusstsein kam, weshalb er sich mit dem Transport in die Lagerhalle beeilen musste. Aber auch dies verlief nach Plan und nun lag er vor ihm auf dem Boden und Tom stand daneben. Genauso, wie sein Vater immer daneben stand, wenn seine Mutter verzweifelt auf dem Boden lag und er es genoss. Tom wartete noch ein paar Minuten, bis Oliver wirklich bei Bewusstsein war. Er wollte, dass Oliver alles spürte und mitbekam, was Tom ihm zufügen würde. Es dauerte noch ein paar Minuten und schließlich war er bei vollem Bewusstsein. Oliver fing direkt an zu schreien, nachdem er realisiert hatte, dass er sich in einer Lagerhalle befand und ein fremder Mann neben ihm stand. Doch er hörte auf zu schreien, nachdem Tom ein großes, scharfes Messer hinter seinem Rücken hervorzog. Nun war nur noch pure Angst in Olivers Gesicht zu sehen und Tom genoss es, denn die Angst, die er immer als Kind spürte und die ihm sein Leben ruinierte, übertrug er nun auf eine andere Person und er stellte sich
vor, dass nicht Oliver vor ihm lag, sondern sein Vater. Nun würde er ihm die Freiheit nehmen, aber dafür würde er sie bekommen. Tom begann mit seinem Plan und anfangs fing Oliver wieder an zu schreien, aber nach kurzer Zeit begriff er, dass es keinen Ausweg gibt und egal wie laut er schreien würde, es würde nichts bringen. Tom schnitt mit den verschiedenen Skalpellen Muster in seine Haut, hauptsächlich, um Oliver Schmerzen zuzufügen. Nachdem er ein paarmal das Bewusstsein  aufgrund der Schmerzen verlor, beschloss Tom, dass es nun so weit war. Er nahm das Messer, setzte es an seiner Kehle an und schnitt hindurch. Blut strömte heraus und das Leben von Oliver war beendet. Tom fühlte sich befreit. Er nahm sich, was ihm gehörte und er hörte die Stimme seiner Mutter, wie sie ihn lobte. Noch nie im Leben war Tom so glücklich. Noch nie hatte er das Gefühl frei zu sein, aber jetzt endlich spürte er es und es war wunderschön. Tom ließ die Leiche in der Lagerhalle liegen. Man wird sie irgendwann finden, aber niemals wird eine Spur zu ihm führen.

Es ist der 15. Februar 2013. Vor vier Tagen nahm Tom Oliver das Leben. Nun steht Tom erneut vor seinem Küchenfenster und schaut in die Ferne. Die Freiheit, die er vor vier Tagen noch so extrem spürte, wurde von Tag zu Tag weniger und jetzt hört er die Stimme seiner Mutter wieder, die ihm sagt: „Erst wenn er nicht mehr da ist, dann bist du frei.”


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