Maria Kirsch: Zur gleichen Zeit – 3. Platz

Zur gleichen Zeit   

Wie jeden Abend saß Maia an ihrem Fenster. Schon im Pyjama, in eine Decke gekuschelt und eine Tasse Tee in der Hand, sah sie in den Nachthimmel, der sich über die Hochhäuser streckte. Sie hoffte, dieses Mal die Sterne strahlen zu sehen, doch wie üblich wurde sie enttäuscht. Die Lichter der Stadt überstrahlten die Sterne bei weitem und das einzige, was sie hell und klar am Himmel sah, war der Mond. Manchmal wünschte sie sich, an einem anderen Ort zu leben. Sie wusste nicht, wohin sie gehen würde, wenn sie die Möglichkeit hätte. Doch dort, wo auch immer es war, sollte die Nacht dunkel bleiben. Dann könnte sie jede Nacht rausgehen und die Sterne zählen.  

Maia konnte schon vor ihrem inneren Auge die leuchtenden Lichter am Himmel sehen. Sie trank einen Schluck Tee und war ganz in ihre kleine Wunschwelt versunken, bis sie ein lautes Hupen zusammenzucken ließ. Wo auch immer dieser Ort war, dort sollte es ruhig sein, stellte sie fest. So leise, dass man sogar die Blätter im Wind rascheln hören konnte. Und es wäre toll, wenn man jeden kennen würde, dachte sie weiter. Wenn man sich mit jedem unterhalten könnte, jeder einen fragt, wie es einem geht, was man so macht. Maia seufzte.  

So einen Ort gab es wahrscheinlich heutzutage nicht mehr. Überall fuhren Autos und sie kannte ja nicht einmal die Namen ihrer NachbarnSie seufzte noch einmal und sah wieder in den Himmel. Wie zu erwarten war, konnte sie immer noch nur wenige Sterne sehen. Sie trank noch einen Schluck Tee.  

Sie wollte gerade aufstehen und ins Bett gehen, da sah sie am Himmel eine Sternschnuppe aufblitzen. Sie leuchtete viel heller als die restlichen Sterne und strahlte heller als die grellen Lichter der Stadt, war jedoch nach einer Sekunde wieder verschwunden. „ Eine Sternschnuppe…“, flüsterte Maia. Sie grinste. Sie schloss die Augen ganz fest und wünschte sich etwas: Sie wünschte sich, an einen Ort zu kommen, der so anders war als dieser. Einen Ort, von dem sie hier nur träumen konnte. Sie öffnete die Augen und ließ ihren Blick über die Hochhäuser gleiten. Dann wandte sich ab und ging ins Bett. 

 

Zur gleichen Zeit, an einem anderen, weitentfernten Ort, saß Cecilia auf dem Dach ihres Hauses und starrte in den Himmel hinauf. Eigentlich durfte sie das nicht, da sie runterfallen könnte, doch das war ihr egal. Cecilia strich ihre Haare zurück, seufzte und blickte über die Dächer des kleinen Dorfes, das sie ihr Zuhause nannte. Es war ein so kleines Dorf, dass es fast auf keiner Karte verzeichnet war. Immer wenn Reisende sich dorthin verirrten, waren sie ganz überrascht und blieben ein paar Tage, um die Ruhe dort zu genießen. Die Ruhe, die Cecilia kaum noch aushalten konnte.  

Oft überlegte sie, wie es wäre, wenn sie heimlich den Reisenden folgen würde. Oft stellte sie sich vor, wie sie in einer großen Stadt ankommen würde, all die neuen Gesichter, die sie sehen könnte. Ein Ort an dem niemand sie kannte, an dem jeder sie in Ruhe lassen würde. Das klang wie ein unerreichbarer Traum. Sie blickte wieder zu den Sternen. Sie waren so klar und hell, als wäre jeder ein eigener Mond. Ob sie von überall gleich aussahen? Ob jemand in einer großen Stadt auf die gleiche Sterne sah?    

Sie fing an die Sterne zu zählen… Doch sie kam nicht weit, denn eine Stimme durchbrach die Stille: „CECILIA! Wo steckst du wieder?! Komm sofort aus deinem Versteck!“ Sie zuckte zusammen. Ihre Mutter klang ziemlich wütend. Sie sollte sich beeilen, bevor ihre Mutter sie auf dem Dach fand. 

Cecilia warf noch einen letzten Blick in den Himmel. So konnte sie gerade noch sehen, wie eine Sternschnuppe den Himmel überquerte. Sie lächelte. Sie schloss die Augen und wünschte sich etwas. Sie wünschte sich, an einen Ort zu kommen, der so anders war als dieser. Ein Ort, von dem sie hier nur träumen konnte. Ohne sich noch mal umzudrehen, kletterte sie in der Dunkelheit der Nacht und ging ins Bett. 

 

 

 


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