MAYLAS MORGEN – 3. Platz

Morgen:
Morgen. Jeder Tag beginnt mit einem neuen Morgen. Und immer ist es irgendwo Morgen. Die Sonne geht auf, die Vögel erwachen zum Leben und in den Städten erwachen die Menschen. Auch in der Zukunft wird es einen Morgen geben. Einen Morgen im Morgen. Doch wann fängt dieses Morgen an? Nächste Woche, nächstes Jahr, in wenigen Stunden? Gibt es ein bestimmtes Ereignis, dass dieses Morgen markiert? Jeder stellt sich irgendwann die Frage ob er dieses Morgen noch erlebt.

Maylas Morgen:
Für mich steht mein „Morgen“ fest. Es ist vor zwei Jahren eingetreten. Vorher kannte ich nur ein Leben im Krieg. Seit ich denken konnte gab es nichts Anderes. Mitten in der Nacht aufstehen und sich im Keller verstecken, einstürzende Gebäude, Schreie von sterbenden Menschen, lauter Kampfeslärm, das Klagen von Angehörigen und bei jeder Nachricht diese Angst, die Angst, dass es für jemanden aus meiner Familie zu spät war. Meine Mutter und ich wohnten in den Trümmern unseres Hauses. Ich war nachts plötzlich von einem lauten Knall geweckt worden und meine Mutter und ich überlebten nur, weil wir unsere Wohnung eine Woche zuvor in den Keller verlegt hatten. Wie viele unserer Nachbarn umgekommen waren wusste ich nicht. Ich wollte es auch gar nicht wissen. Wer die Bomben geworfen hatte wusste ich auch nicht, ich hatte den Überblick verloren, wer hier überhaupt gegen wen kämpfte.

Jeder Morgen startete für mich gleich. Ich lief zu unserem Briefkasten, den wir notdürftig aus Brettern gezimmert hatten und jedes Mal erwartete ich den Brief, der mich und meine Mutter über den Tod meines Vatersinformieren würde. Dieser Briefkasten wurde für mich zu einem wichtigen Bestandteil meines Lebens und jeden Morgen zu einer neuen Probe. Schließlich erfuhren wir nicht durch einen Brief, sondern durch unsere Nachbarn von seinem Tod. Für mich war es, als würde eine Welt einbrechen. Mein Vater, den ich über alles geliebt hatte, sollte einfach weg sein? Nicht mehr wiederkommen? Doch Zeit zum Trauern fanden wir nicht, da meine Mutter sich zwei Wochen vorher dazu entschlossen hatte, einen Schlepper für uns zu bezahlen. Unsere ganzen Haushaltsgegenstände gingen als Bezahlungsmittel an den Mann, der uns den Platz auf dem Schiff verschaffte. Den Mann selbst traf ich erst, als unser Schiff in See stach. Er war groß. Seine Augen saßen klein und glänzend in seinem fetten Gesicht. Sein Bauch quoll unter dem schmutzigen, weißen T-Shirt hervor und beim Lächeln zeigten sich gelbe Zähne hinter den schmalen Lippen. Er war unrasiert und stank nach Rauch. Normalerweise hätte ich ihm niemals vertraut, aber unter diesen Umständen war er unsere einzige Hoffnung. Grinsend nahm er meiner Mutter den Schlüssel zu unserer Wohnung ab, die bis jetzt unser einziger Schutz gewesen war und führte uns den Steg entlang zu dem morschen Boot.

Von der Seite des Boots bröckelte die Farbe ab. Der Name war schon nicht mehr zu erkennen. Er hatte sich aufgelöst. Und mit ihm meine Hoffnung. Wir würden ertrinken, wir würden es nicht schaffen. Ich blieb mitten auf dem Steg stehen, aber meine Mutter zog mich weiter. Das Boot schwankte unter unseren Schritten, Bohlen knirschten, knarrten und knackten. Wir setzten uns neben die anderen Leute auf die Bank und der Mann reichte mir eine Schwimmweste. „Ich mag dich kleines Mädchen“, lispelte er. „Du sollst sicher sein.“ Dann stieg er vom Boot und stieß uns vom Steg ab. Langsam trieben wir aufs Meer hinaus. Einer der Männer, die auf dem Boot waren, startete den Motor und das Boot tuckerte los. Es mühte sich ab mit der Last der Menschen.

Hinter uns wurde das Land kleiner, bis es ganz verschwand. Mitten auf dem Meer brach die Nacht herein. Ich rollte mich auf dem Boot zusammen, doch schlafen konnte ich nicht. Mehrere Tage trieben wir auf dem Meer hin, da unser Motor bereits in der ersten Nacht schlappgemacht hatte. Meine Kehle war trocken und ausgedorrt, die Sonne brannte auf uns nieder. Und dann passierte es. Das Boot sank. Ganz langsam bahnte sich das Wasser seinen Weg durch den Boden, quoll durch die Ritzen in das Boot. Bald waren meine Socken durchnässt. Panisch klammerte ich mich an meine Mutter. Wir waren geliefert! Werder sie noch ich konnte schwimmen.

Was danach passierte weiß ich nicht mehr. Das Nächste, an das ich mich erinnere, sind die Rettungsringe des Schiffs, das mich rettete. Sie hatten mich aus dem Wasser gefischt. Die einzige Überlebende von allen. Meine Mutter, die Kinder alle waren sie weg. Doch das realisierte ich erst einige Stunden später. Die Tränen überfluteten mich. Bis heute träume ich noch von der Überfahrt. Nach zwei Tagen auf dem Rettungsschiff ging ich endlich wieder an Land, hatte festen Boden unter den Füßen.

Ich wurde bald nach Deutschland geschickt. Flog mit einem Flugzeug. Ich hatte das geschafft von dem wir immer geträumt hatten. Ich hatte wieder eine Chance auf ein Leben. Und obwohl ich alleine war, obwohl der Verlust schmerzte, obwohl ich alles verloren hatte, war ich erleichtert. Ich fühlte mich sicher, ich war alleine, ich hatte alles verloren und ich waer erleichtert. Ich war total verwirrt. Jetzt –heute- zwei Jahre nach dieser Flucht, zwei Jahre nach dem Neuanfang bekam ich den Brief. Ich bin endlich anerkannt. Nicht mehr illegal. Ich werde hier meinen Schulabschluss machen dürfen. Ich werde studieren können, einen Beruf erlernen. Ich bin in Sicherheit. Ich habe es geschafft. Endlich ist der Blick auf „Morgen“ nicht mehr versperrt. Der Nebel hat sich gelöst und gibt mir den Weg frei in meine Zukunft, meine sichere Zukunft. Und das Gestern wird für immer in meinem Herzen sein.

©2018 SchreibKunst-Blog/ Anna Pauline Gutzeit (8a)


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