Ella Ziegert – Die Flut

Die Wellen schlagen über meinem Kopf zusammen und drücken mich hinunter, wo unsichtbare Fesseln mich zu ketten scheinen; zu ketten an die Dunkelheit, der ich so lange entronnen. Ich lächele… ein letzter Atemzug, verwandelt in tanzende Blasen. Wer weiß, was diese auf ihrem Weg noch alles sehen werden.

Ich begrüße die Tiefe mit einem Nicken und der Gewissheit, dass diese Begegnung anders ist als alle vorherigen und dass ich nicht erneut werde entkommen können. Und ich breite die Arme aus, lasse mich einen Moment treiben, dann schließe ich die Augen.

Ich habe erreicht, wohin ich schon immer gehörte.

Null. Eins. Eins. Null. Nullen und Einsen, Einsen und Nullen. Mehr braucht es nicht, um die Festplatte so viel leistungsstärker zu machen als mein Gehirn. Ein Blick in meinen Kalender zeigt mir, wie ich den Tag zu verbringen habe. Fotos zeigen längst vergessene und verblasste Momente. Die neuesten Nachrichten spiegeln die Grausamkeit der Welt wider und geben mir ein Gefühl von innerer Leere. Ein Druck lastet auf mir, der sich nicht in Worte fassen lässt. Ich habe alles, was ich brauche und so viel mehr; die Türen zur Welt stehen mir offen; ich könnte alles sein und alles werden, was ich nur will. Und doch sitze ich hier und schaue untätig zu, wie Sekunde um Sekunde vergeht, wie die Tage verstreichen und sich nichts in meinem Leben ändert, während um mich herum alles brennt. Ein Druck begleitet mich durchs Leben und ist er nicht da, so fehlt etwas. Der Druck ist mein stetiger Begleiter. Ich kann nicht sagen, wann er mir die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte – dieser Tag stand nicht in meinem Kalender.

Vielleicht sollte ich diese Tatsache als Beweis gegen die Unfehlbarkeit des Systems sehen und mich daran erfreuen. Die Festplatte ist zwar leistungsstärker, doch nicht allwissend. Die digitale Welt hilft bei der Schaffung neuer Möglichkeiten, doch ist nicht allmächtig. Sie erleichtert mir und zahlreichen Anderen den Alltag, doch je weiter sie fortschreitet, desto schwerer wiegt der Druck… Er schlägt seine Krallen in mein Fleisch und verzieht den Mund zu einem hämischen Lächeln. Er spottet über mich:

“Sag mal Schätzchen, was haben wir heute eigentlich erreicht?”

Nenn mich nicht so.

“Wieso denn nicht? Der Name passt zu dir. Du verhältst dich schließlich so, als würde dir alles geschenkt werden – sorglos. Ist dir klar, dass das nie passieren wird? Aus dir wird nie etwas werden, du wirst ewig hier festhängen, nichts aus deinem Leben machen und einen bedeutungslosen Tod sterben. Auf deinem Grabstein wird es heißen “Geliebtes Kind” – eine scheinheilige Lüge, verbietet die Höflichkeit doch eine treffendere Beschreibung. “Enttäuschung” klingt gut, meinst du nicht?”

Nein. Halt den Mund, sei leise. Ich bin das nicht und werde so nicht enden. Du irrst dich! Du musst dich einfach irren…

Der Blick in den Spiegel tut weh. Ich stehe neben mir selbst und schaue mich aus jüngeren Augen an, die zu fragen scheinen, was nur aus uns geworden ist. Eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Noch immer bin ich ich, wenngleich verändert; doch ist Veränderung nicht der Teil des Lebens, der es lebenswert macht, der uns zu Menschen macht? Und sehen wir nicht uns und den Menschen, die wir lieben, unendliche Male dabei zu, wie sie sterben oder ein Teil von ihnen aufhört zu existieren, um zu etwas Anderem zu werden? Wer bestimmt also, dass ein Tod bedeutungslos ist, wo er doch die Stufe zu einem anderen Selbst sein kann, die es zu überwinden gilt?

Wieso habe ich solche Angst vor dem Ende…?

“Weil es für dich bloß noch eins geben wird, Dummerchen. Du hast Veränderungen seit Ewigkeiten besser gemieden als eine Katze das Wasser. Früher warst du anders. Du hattest Ziele. Doch hast du nie auch nur Anstalten gemacht, dich oder dein Umfeld anzupassen, um diese zu erreichen. Und schau dich heute an. Blickst nicht mal mehr in den Spiegel, um deinen eigenen Fragen zu entrinnen.”

Der Druck spricht Wahrheit. Als kleines Kind schien die Welt so groß, die menschliche Existenz so lang und die Zeit, sie schlich dahin. Früher war der Tee, den ich trank, stets zu heiß; heute bin ich froh, wenn er nicht von gestern ist und Staub auf seiner Oberfläche schwimmt. Ich wollte damals nicht ins Bett, heute kann ich es nicht. Alpträume jagen mich umher; Gedanken halten mich wach. Das Leben ist unnahbar geworden, wie ein alter Freund. Ich weiß nicht, wann wir auf Wiedersehen gesagt haben, ob es jemals dazu gekommen war. Es hatte sich still davongeschlichen und nun stehe ich hier und wann immer sie unser Lied spielen, muss ich mitsingen und zurückdenken an die alten Zeiten; die guten alten Zeiten, in denen ich noch wusste, was ich mal mit mir anfangen wollte. Die Träume und Ideen stecken noch in mir, doch sind sie begraben unter einem Haufen unwichtiger Fakten und einem Mantel aus Bitterkeit.

Vielleicht ist es an der Zeit, diesen aufzuheben und die Fakten zurück in ihre Regale zu stellen.

“Aber klar doch, Hoheit, etwas Liebe, Zuneigung und Weltfrieden und schon wirst du wieder zu einem naiven Kind. Oh, warte… unter diesen Voraussetzungen wird da wohl eh nichts draus. Schade, schade.”

Nein. Halt den Mund, sei leise. Ich bin nicht naiv. Ich habe Hoffnung. Und du wirst mir diese nicht in drei Sätzen wieder nehmen! Ich war lange genug ein Kind und lange genug nicht erwachsen. Ich habe lange genug nicht gelebt. Tage und Nächte in meinem Zimmer verbracht, ohne zu wissen, wie spät es war. Sorgen ertränkt und mein Kopfkissen mit Tränen gewässert. Ich habe dich lange genug genährt. Du bist das Problem, nicht ich. Du bist es. Du bist es, der nicht selbst laufen kann. Der nichts ist, solange er mir nicht ins Gewissen redet. Du bist es, der mich fesselt.

Die Wellen schlagen über meinem Kopf zusammen und drücken mich hinunter, wo unsichtbare Fesseln mich zu ketten scheinen; zu ketten an die Dunkelheit, der ich so lange entronnen. Ich lache über diesen kläglichen Versuch und sie fallen ab.

Ich begrüße die Tiefe mit einem Nicken und der Gewissheit, dass diese Begegnung nicht die letzte sein wird und dass ich ihr immer wieder werde entkommen können, wenn ich nur will. Und ich breite die Arme aus, lasse mich einen Moment treiben, dann breche ich durch die Oberfläche.

Ich bin hier und ich lebe und alles wird gut werden.

Und kommt die Flut, gehe ich aus dem Wasser und warte auf sanftere Wellen.


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