Rieke – Freie Wildnis

Ich renne. Weg von allem, in den Wald. Frei sein. Selbst entscheiden, was ich tue. Ich höre Rufe hinter mir. Aber ich gehe nicht darauf ein. Eine Träne bildet sich in meinem Auge, ich wische sie weg. Ich biege ab. Es ist dunkel und mir ist kalt. Ich renne schneller, um mich aufzuwärmen. Ich komme an eine kleine Lichtung mit einer großen Eiche in der Mitte. Das ist mein Ziel. Diese Lichtung kenne nur ich. Ich setze mich an die Eiche und verschnaufe erstmal. Pause. Erschöpft kauere ich mich zusammen. Doch dann durchströmt mich ein Glücksgefühl. Endlich frei! Tun und
lassen, ganz nach meiner Meinung. Ich rappele mich auf und öffne meinen  Rucksack. Ich habe einige Dinge zum überleben mitgenommen: Einen Schlafsack, ein kleines Erste-Hilfe-Set, mein Tastenhandy mit Batterien-Funktion, genügend Batterien die in mein Handy passen, einen Geldbeutel mit mehreren hundert Euro, Proviant (Brote, Gemüse, Obst, Wasser), eine Taschenlampe, eine Armbanduhr, einen kleinen Topf, zwei Becher, einen Spiritus-Kocher, eine Plane, ein Schraubenset mit Schraubenziehern und einige Holzbretter. Ich nehme zuerst  meinen Schlafsack heraus und rolle ihn auf. Ich breite mein zukünftiges Bett aus. Hier werde ich nun schlafen. Meinen Geldbeutel stecke ich zu meinen Füßen in den Schlafsack, damit er einigermaßen sicher ist. Dann lege ich mich in mein Bett. Zuerst kann ich nicht einschlafen. Ich muss über mein neues Leben nachdenken, welches ab jetzt beginnt. Mir wird bewusst, welche Zeiten ich bestehen muss, vor
allem im Winter. Ich schaue auf die Uhr. Es ist fast zehn Uhr Abends. Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. Ich muss nicht mehr um sechs Uhr aufstehen, um zur Schule zu gehen! Mit diesem Gedanken schlafe ich ein.

Am nächsten Tag wache ich auf. Ich muss aufs Klo. Ich schaue mich um und  bemerke einen Busch, der am Rande der Lichtung steht.

Eine Minute später sitze ich wieder unter der Eiche und packe meinen Rucksack aus. Ich hole die Holzbretter heraus. Einige sind lang, andere kurz. Mit meinen Schrauben und drei kurzen Holzbrettern baue ich mir eine kleine Fläche, die als Tisch dient. Auf den provisorischen Tisch stelle ich den Spiritus-Kocher und den Topf. Alles zusammen steht dann neben meinem Bett. Im Gebüsch hinter mir knackst ein Zweig. Ich erschrecke mich und drehe mich um. Ich stehe auf und
gehe ganz langsam auf die Stelle zu, woher das Geräusch kam. „Ich darf in Zukunft nicht so schreckhaft sein“, denke ich mir. Ich umrunde den Busch und sehe gerade noch so ein Reh, das zurück in die Tiefen des Waldes springt. Ich atme aus und gehe zu meinem kleinen Lager zurück. Ich hole mein Handy raus und spiele ein Spiel. Doch dann bekomme ich Hunger. Ich nehme mir ein Brot und esse es. Ich denke über das Reh nach. Das ist doch auch frei. Dann schaue ich mir die Risiken an, die das Leben im Wald mit sich bringt. Irgendwie beschleicht mich der Gedanke, dass
es doch keine so gute Idee war, weg von all dem Stress zu flüchten. Ich beiße in mein Brot und vertreibe den unangenehmen Gedanken. Doch immer wieder muss ich an meine frühere Familie denken und bekomme schon nach einem Tag in der Wildnis Heimweh. Ich versuche, dieses Gefühl wegzuschieben, zu vergessen. Und es klappt.

Drei Tage später denke ich nicht mehr an die Menschen in der lauten Stadt und konzentriere mich auf mein Leben jetzt. Das Reh, das ich getroffen habe, ist jetzt mein Freund und vertraut mir. Regelmäßig kommt es mich besuchen.

Doch noch zwei Tage vergehen und es wird kälter und kälter. Irgendwann fällt sogar Schnee! In der Nacht ziehe ich mir die Plane über, doch die hilft nur wenig. Ich kuschele mich in meinen Schlafsack und versuche, mich aufzuwärmen. Ich sehe eine Bewegung aus dem Augenwinkel und schaue mich um. Mein Reh kommt auf mich zu und legt sich zu mir. Ich schmiege mich an meinen Freund. Er gibt mir von seiner Körperwärme ab, und schon wird mir wieder warm.

 

An einem Tag höre ich laute Knaller. Ich sehe auch ein paar Funken am Himmel. Muss Silvester sein. Schon  wieder denke ich an die Leute, die Kinder in meiner Schule und an meinen besten Freund. Die tollen Zeiten im Schwimmbad, im Kino… Die Lehrer an meiner Schule… jetzt ist der erste Januar und damit das Jahr 2030. Ich seufze und schaue mich um. Diese Lichtung ist mein Zuhause geworden. Das Reh ein Teil meiner Familie und der Schlafsack Alltag. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, das alles zu verlassen. Doch irgendetwas drängt mich zurück zu meiner Familie und meinen Freunden.  Irgendwie vermisse ich auch die laute und stinkende Müllabfuhr, die immer vor unserem Fenster hält. Das Piepsen war, genauso wie die große Eiche jetzt, mir  vertraut. Noch einmal schaue ich mich um, dann lege ich mich schlafen.

Am nächsten Tag werde ich von Sonnenschein, Kälte und einem sanften Schnauben geweckt. Ich blinzele und schaue meinem Waldfreund in die dunklen Augen. Ich setze mich auf und kraule das Reh hinter den Ohren. Dann krabbele ich aus meinem Schlafsack und nehme mir das letzte Stück Brot. Ich reiße ein Stück davon ab und gebe es meinem Freund. Ich hole meinen Geldbeutel hervor und betrachte ihn. Ich zittere. „Nach Hause“, denke ich unfreiwillig. Mir ist kalt und überall liegt
Schnee. „Ins warme Haus“, kommt mir der Gedanke. Ich reiße mich zusammen und packe meine Sachen ein. Ich rolle den Schlafsack zusammen und hänge ihn an meinen Rucksack. Mein Waldfreund schaut mich fragend und mit schief gelegtem Kopf an. Ich erkläre ihm: „Ich gehe nach Hause. Aber ich werde dich hier immer besuchen, okay?“ Das Reh schnaubt, scheint mit dem Kopf zu nicken und schnuppert noch einmal an meiner Hand. Dann trabt es in den Wald. Ich schaue
meinem Freund hinterher. Ich seufze und packe weiter meine Sachen zusammen. Meinen Tisch, den Spiritus-Kocher, den ich überhaupt nicht benutzt habe… warum hab ich ihn dann mitgenommen? Ich schüttele meinen Kopf und schließe meinen Rucksack. Ich setze ihn mir auf und mache mich auf den Weg zurück in die Stadt.

Eine halbe Stunde später erkenne ich die ersten Häuser. Nochmal zehn Minuten später biege ich in meine Straße ein. Ich bleibe vor meinem Haus stehen und muss mich zusammenreißen, nicht wieder weg zu laufen. Ich drücke die Klingel. Etwa fünfzehn Sekunden später wird die Tür aufgemacht und ich stehe meiner Mutter gegenüber. Diese ist für zwei Sekunden in Schockstarre, dann kreischt sie jedoch vor Freude und ruft: „Du lebst!“ Ich falle ihr in die Arme und drücke sie. Am liebsten
würde ich sie nie mehr loslassen. „Aber wie siehst du aus?“, sagt sie irgendwann zu mir und hält mich von sich, damit sie mich betrachten kann. Erst jetzt bemerke ich, dass sich in meinen Haaren lauter Blätter, Zweige und Erdkrümel verfangen haben. Ich schaue verlegen an mir herunter und sehe, dass auch meine Klamotten nicht mehr ganz sauber sind.

 

Einen Monat später habe ich bereits vierzehn-mal meinen Freund des Waldes besucht. Und eins habe ich auch bei meinen ersten Tagen zuhause gelernt: Zuhause bin ich freier als in der Wildnis. Dort draußen ist man nicht frei, denn man hat mehr Einschränkungen als zuhause. <3


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