Juliette Wesarg: Die Fahrkarte

„Willst du mit zu mir kommen? Wir könnten zusammen Mathe lernen.“, fragte mich meine beste Freundin Julia.

„Kann nicht. Du weißt doch, dass meine Eltern bis Samstag in Berlin sind.“, antwortete ich bedauernd.

,,Ja und? Umso besser, dann musst du nicht alleine zuhause sein.“, sagte Julia grinsend, total begeistert von ihrer eigenen Idee.

„Ich bin nicht alleine, ich habe dir doch erzählt, dass ich solange bei meiner Oma bleibe.“

„Stimmt, hast du mir ja erzählt.“ Sie ließ die Schultern hängen.

„Ich schreibe dir aber später noch, versprochen!“, schob ich hinterher, als ich ihren enttäuschten Gesichtsausdruck sah.

,,Na gut. Dann halt ein anderes Mal.“ Sie umarmte mich schnell und rannte dann zu ihrer Bahn, die schon gehalten hatte. Ich winkte Julia noch hinterher, mein Bus kam eh erst in 15 Minuten.

Langsam setzte ich meine Beine in Bewegung und lief zur Haltestelle. Ich steckte die Hände in die Taschen, heute war einer der kältesten Tage seit langem. Jedenfalls kam es mir so vor. Ich kuschelte mich in meinen dicken Schal, den Oma mir zum Geburtstag gestrickt hatte. Mir gefiel der Schal, weil er schön groß war. Außerdem schmiegte sich die weiche Wolle an meine Wangen, was ihn nicht nur zu einem tollen Versteck für mein Gesicht machte, sondern auch wirklich warm hielt.

Als ich um die Ecke bog, stand der Bus schon da. ,Hä, seit wann kommt der denn zu früh?´, fragte ich mich. ‚Ist ja eigentlich umso besser.‘

Ich hatte nämlich echt keine Lust, wie letztes Mal 20 Minuten in der Kälte auf den verspäteten Bus warten zu müssen.

Da ich meine Hände schon tief in meinen Taschen hatte, griffen meine Finger automatisch nach meiner Jahreskarte. Doch da war nichts. Meine Finger griffen ins Leere. Hektisch kramte ich weiter, mein Herzschlag wurde schneller. Ich warf einen Blick in meine Taschen, doch sehen konnte ich sie auch nicht. Da war nichts. Außer ein benutztes Taschentuch und meine FFP2-Maske.

Da fiel es mir ein. Meine Karte war in der anderen Jacke. Bei dem Regen am Morgen hatte ich mich für meine Regenjacke entschieden und das Ticket vergessen. Och nee! Wie konnte mir sowas Doofes passieren? Mann!

Aber es brachte nichts, sich aufzuregen. Das brachte meine Karte auch nicht dazu, zu mir zu fliegen. Jetzt musste ich mir ein Ticket kaufen. Beim Gedanken daran, mit dem grummeligen alten Busfahrer reden zu müssen, wurde mir übel. Konnte ich nicht einfach Schwarzfahren? Nein, würde ich erwischt werden, wäre es noch schlimmer. Wahrscheinlich würde mich auch noch die Polizei einsammeln, und mit ernsten Polizisten hatte ich noch weniger Lust zu reden.

Ich holte tief Luft, setzte schnell meine Maske auf, wickelte mir meinen großen Schal noch einmal um den Hals, und ging langsam die Stufen hoch. Ich starrte auf den Boden und mit leiser Stimme murmelte ich: ,,Eine Kinderfahrkarte bitte“ und versteckte mich noch ein bisschen tiefer in meinen Schal.

„Geht´ s noch leiser?“, fragte der alte Busfahrer gereizt. Erschrocken hob ich meinen Kopf. Mein Herz begann schneller zu schlagen und meine Hände wurden feucht.

„Hallo, ich rede mit dir.“, sagte er langsam und mit lauter Stimme. Ich schaute ihm kurz in die Augen, doch blickte gleich wieder nach unten und vergrub meine Hände noch etwas tiefer in meinen Taschen.

„Eine Kinderfahrkarte bitte.“, wiederholte ich diesmal etwas lauter und mit zitternder Stimme.

„Mädchen du musst lauter reden, ich verstehe dich nicht! Oder nimm die blöde Maske ab, wenn du nicht laut genug reden kannst!“, maulte er mich an. Ich zuckte zurück, mein Gesicht noch immer versteckt von meiner Maske und von meinem Schal.

„Hallo, geht es bitte etwas schneller? Du bist hier nicht die einzige im Bus!“, hörte ich eine weibliche Stimme hinter mir. Ich drehte mich langsam um und sah eine alte Dame, die sich auf ihren Stock stützte und mich genervt ansah.

„Tut mir leid.“, flüsterte ich und schob mich an ihr vorbei nach draußen. Mir war zum Heulen zumute.

An diesem Tag lief ich nach Hause.


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